#14 – Die Verfolgung und Verjährung von sexuellen Straftaten in Belgien

Die Verfolgung sexueller Straftaten ist eine komplexe Rechtsmaterie und der Gesetzgeber hat eine Reihe spezieller Maßnahmen in Kraft gesetzt, um diese Art von Straftaten zu ahnden.

Die Vergangenheit Belgiens – und insbesondere die Affaire Dutroux – haben zur Folge gehabt, dass sexuelle Straftaten an Minderjährigen besonders streng bestraft werden.

 

1. Die geläufigsten sexuellen Straftaten und ihr Strafmaß

  • Voyeurismus

Gemäß Artikel 371/1 Strafgesetzbuch wird Voyeurismus mit einer Haftstrafe von 6 Monaten bis 5 Jahren bestraft (bis zu 10 bzw. 15 Jahren Haft, wenn es sich um minderjährige Opfer handelt).

Unter Voyeurismus versteht man: wer eine Person beobachtet oder beobachten lässt oder eine Bild- oder Tonaufzeichnung von ihr macht oder machen lässt,

– direkt oder mittels eines technischen oder anderen Hilfsmittels,

– ohne die Erlaubnis dieser Person oder ohne ihr Wissen,

– während sie entblößt ist oder sich einer expliziten sexuellen Tätigkeit hingibt und

– während sie sich unter Bedingungen befindet, unter denen sie nach vernünftigem Ermessen erwarten kann, dass ihre Privatsphäre nicht beeinträchtigt werden wird.

 

  • Sexueller Übergriff

Gemäß Artikel 372 StGB werden sexuelle Übergriffe[1], die ohne Gewaltanwendung oder Drohung an einem Kind des einen oder anderen Geschlechts, das jünger als sechzehn Jahre ist, oder mit dessen Hilfe begangen werden, mit einer Haftstrafe von fünf bis zu zehn Jahren geahndet (10 bis 15 Jahre, wenn die Übergriffe innerhalb einer Familie stattgefunden haben).

 

Gemäß Artikel 373 StGB werden sexuelle Übergriffe mit einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren geahndet, die an Personen oder mit Hilfe von Personen des einen oder anderen Geschlechts mit Gewaltanwendung, Zwang, Drohung, Überrumpelung oder List begangen werden oder die aufgrund eines Gebrechens oder einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung des Opfers ermöglicht wurden.

Wichtig ist hier zu bemerken, dass ein sexueller Übergriff vorliegt, sobald mit seiner Begehung begonnen worden ist (Art. 374 StGB).

 

  • Vergewaltigung

a. Gemäß Artikel 375 StGB ist eine Vergewaltigung jegliche mit Penetration verbundene sexuelle Tat gleich welcher Art und durch gleich welches Mittel, die an einer Person begangen wird, die darin nicht einwilligt.

Es liegt insbesondere keine Einwilligung vor, wenn die Tat durch Gewalt, Zwang, Drohung, Überrumpelung oder List aufgenötigt oder aufgrund eines Gebrechens oder einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung des Opfers möglich gemacht wird.

Wer das Verbrechen der Vergewaltigung begeht, wird mit einer Haftstrafe von fünf bis zu zehn Jahren bestraft.

Wird das Verbrechen an einem Minderjährigen begangen, der älter als sechzehn Jahre ist, wird der Schuldige mit einer Haftstrafe von zehn bis zu fünfzehn Jahren bestraft.

Wird das Verbrechen an einem Kind begangen, das zwischen vierzehn und sechszehn Jahre alt ist, wird der Schuldige mit einer Haftstrafe von fünfzehn bis zu zwanzig Jahren bestraft.

 

b. Als Vergewaltigung unter Gewaltanwendung wird jegliche mit Penetration verbundene sexuelle Tat gleich welcher Art und durch gleich welches Mittel angesehen, die an einem Kind begangen wird, das das vierzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat. In diesem Fall ist die Strafe eine Haftstrafe von fünfzehn bis zu zwanzig Jahren.

Die Strafe ist hier eine Haftstrafe von zwanzig bis zu dreißig Jahren, wenn das Kind jünger als zehn Jahre ist.

 

c. Hierzu ist wichtig zu unterstreichen, dass ein Minderjähriger, der jünger als sechzehn Jahre alt ist, keine Einwilligung zum Sexualverkehr geben kann. Anders gesagt, Sexualverkehr mit einem Minderjährigen, der jünger als 16 Jahre alt ist, ist – rechtlich gesehen – immer eine Vergewaltigung und wird als solche bestraft! Ein etwaiges Einverständnis ist irrelevant.

 

d. Zu diesem Punkt sei ebenfalls bemerkt, dass der Gesetzgeber auch folgende Taten bestraft: Grooming[2], Besitz und Verbreitung von kinderpornographischem Material, Sexismus, Sexting (im Falle der Verbreitung von kinderpornographischem Material).

 

Bezüglich des Strafmaßes muss noch darauf hingewiesen werden, dass dieses aufgrund von mildernden Umständen reduziert werden kann[3].

 

2. Verjährung

Seit dem Gesetz vom 14. November 2019 (Inkrafttreten am 30. Dezember 2019) verjähren sexuelle Straftaten, die an einem Minderjährigen begangen werden, nicht mehr (Art. 21bis des einleitenden Titels des Strafprozessgesetzbuches). Vorher verjährten sexuelle Straftaten an Minderjährigen 15 Jahre nach Volljährigkeit des Opfers.

Diese Nicht-Verjährbarkeit der sexuellen Straftaten an Minderjährigen gilt allerdings nur für die Taten, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens – also am 30. Dezember 2019 – noch nicht bereits verjährt waren.

Vergewaltigungen an Volljährigen (Art. 375 StGB) verjähren nach 10 Jahren ab dem Tag, an dem die Tat begangen wurde.

Die Bestimmung bezüglich der Minderjährigen soll es diesen ermöglichen, auch nach Erreichen der Volljährigkeit die Tat zur Anzeige zu bringen und den/die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Es muss allerdings der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen werden, dass je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger die Beweisführung und -Sicherung ist.

 

3. Rolle des Opfers in Verfahren bzgl. sexueller Straftaten

Die Rolle des Opfers im Rahmen dieser Verfahren ist essenziell: durch die Anzeige einer Straftat kann das Opfer das Verfahren in Gang setzen und die Staatsanwaltschaft mit der Verfolgung der Straftat betrauen.

Verständlicherweise fällt dieser Schritt dem Opfer nicht leicht, da es zur – emotionalen – Wiederholung der erlittenen Übergriffe führt. Aufgrund dessen wird dringend empfohlen, sich professionell bei diesem Prozess begleiten zu lassen. Psychologische Unterstützung ist hier daher sehr zu empfehlen.

Des Weiteren muss das Opfer die rechtlichen Schritte keinesfalls alleine absolvieren: sein Rechtsbeistand kann ihm bereits bei der anfänglichen Klage zur Seite stehen und alle weiteren Schritte (z.B. die Bestellung als Zivilpartei im Rahmen des Verfahrens) an seiner Stelle erledigen und ihn auch später bei der Gerichtsverhandlung vertreten.

Sollte das Opfer minderjährig sein, wird es mittels einer sogenannten TAM-Vernehmung durch speziell ausgebildete Polizeibeamte in einem geschützten Rahmen vernommen (und per Video aufgenommen), um spätere erneute Vernehmungen zu vermeiden. Auch hier kann das Opfer sich durch eine neutrale Vertrauensperson begleiten lassen.

Da wir aus beruflicher Erfahrung wissen, dass das Opfer den Schritt zur Anzeige nicht leicht geht, ist es ratsam, sich im Vorfeld einen Beratungstermin beim Rechtsanwalt seines Vertrauens zu nehmen, um das Verfahren erklärt zu bekommen und sich bei den weiteren Schritten begleiten zu lassen.

Da wir ebenfalls feststellen müssen, dass diese Verfahren wegen sexuellen Straftaten auch in unserer Gegend keine Ausnahme mehr bilden, ist es umso wichtiger, dass jedes Opfer die Übergriffe zur Anzeige bringt. Nur so erfahren Opfer, dass sie nicht alleine sind und können möglicherweise zukünftige Übergriffe durch selbe Täter vermieden werden.

 

4. Ein abschließendes Wort zu den Verdächtigen

Wir werden regelmäßig durch Verdächtige konsultiert, die uns fragen, ob eine Begleitung eines Rechtsbeistands anlässlich einer (polizeilichen) Vernehmung tatsächlich nötig ist. Vor allem, wenn sie der Ansicht sind, dass sie sich nichts zuschulden haben kommen lassen.

Hierzu sei gesagt, dass aufgrund der sogenannten Salduz-Gesetzgebung jedem Verdächtigen die Beratung und Begleitung eines Rechtsbeistands ab der ersten polizeilichen Vernehmung zusteht insofern die Taten, die dem Verdächtigen zur Last gelegt werden können, eine Straftat betreffen, die mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann (Artikel 47bis §2 StPGB).

Sollte die polizeiliche Vernehmung im Rahmen einer Festnahme stattfinden, ist diese sogar kostenlos und wird durch die Anwälte der Rechtsanwaltskammer EUPEN innerhalb der kostenlosen Rechtshilfe gewährleistet.

Die Beratung und Begleitung durch einen Rechtsbeistand sind deshalb sinnvoll, da dieser den Verdächtigen sowohl über seine Rechte[4] als auch über den weiteren Verlauf des Verfahrens informieren wird und spätere Untersuchungsmaßnahmen beantragen kann.

Ebenfalls ist er der Garant für die Wahrung seiner Rechte während der eigentlichen Vernehmung und achtet – unter anderem – darauf, dass die Aussage des Verdächtigen exakt niedergeschrieben und das Verfahren korrekt eingehalten wird.

Zu diesem Punkt sei darauf hingewiesen, dass die Unschuldsvermutung gilt. Diese bedeutet, dass jemand, der eines kriminellen Vergehens beschuldigt wird, so lange für unschuldig zu gelten hat, bis seine Schuld tatsächlich nachgewiesen ist, d.h. bis ein rechtskräftiges Urteil vorliegt.

 

Stand: 10. Dezember 2021

[1]              Ein sexueller Übergriff hat stattgefunden, wenn gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vorgenommen wurden oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt.

[2]              Art. 377quater StGB, d.h. die gezielte Manipulation Minderjähriger über das Internet mit dem Ziel, ein Treffen mit dem Opfer zu vereinbaren, um sexuelle Straftaten zu begehen.

[3]              Gesetz über die mildernden Umstände vom 4. Oktober 1867.

[4]              Folgende Rechte stehen dem Verdächtigen anlässlich einer Vernehmung zu : z.B. das Recht, sich im Vorfeld mit einem Anwalt zu beraten, sich nicht selber zu beschuldigen, das Recht zu schweigen, das Recht auf medizinische Versorgung.